holly holleber

1987-1990 Krüppeltheater – Der Name war selbst gewählt und Programm

Theater und Musik oder Musik und Theater: eine fruchtbare Zusammenarbeit

Kurze Zeit nachdem Christian Verhoeven bei uns angefangen hatte – ein Mann, den ich noch aus Studienzeiten kannte, und den ich gerne auf Grund seiner vielfältigen Erfahrungen mit Menschen, Musik und Theater an die Schule geholt hatte – liefen erste Versuche der gemeinsamen Arbeit: Dramatisierung der „Maske des roten Todes“ von E.A.Poe mit Musik, die die Handlung gliederte bzw.unterstützte, dann „Pedro und der Zirkus Tektas“ das erste selbstentwickelte Stück als Schattentheater, hinzu kamen eigens komponierte,charakteristische Songs. 
Dann folgten die „richtigen“ Theaterstücke u.a. „Uns stinkt´s“ und „Durchgedreht“, bei denen jeweils eine Rockband wesentlicher Bestandteil war – oft spielten die Bandmitglieder auch eine Theaterrolle oder die Band war Teil des Stückes – und eine sich gegenseitig befruchtende Arbeit der Theaterleute und der Musiker begann. Meist entstanden Songs zur Thematik der jeweiligen Szenen, doch auch umgekehrt entstanden Szenen, weil ein toller Song vorhanden war. Diese Produktionen waren so gut, dass wir damit immer auf Tournee gingen und nicht nur in Ba-Wü.
Ich habe aus dieser gemeinsamen Zeit nicht nur persönlich viel erfahren dürfen, sondern habe für meine eigene Schüler-Theaterarbeit Wesentliches gelernt. Der folgende Text war Bestandteil des Programmheftes zu „Uns stinkt´s“ und zeigt wie Theaterarbeit mit Schülern gelingen kann.

Improvisationstheater- Grundlage der Theaterarbeit mit dem Krüppeltheater

Ein halbes Jahr haben wir in den Proben getanzt, geredet,ausprobiert, 
uns gekugelt und gedroht, uns lustig und uns ernst gemacht.
Wir haben uns ganz gut kennengelernt:
Was einer mag oder nicht.
Was eine gut ausdrücken kann oder nicht.
Wovor sich eine drückt oder nicht.
Dann haben wir überlegt, was wir spielen wollen.
Die Rollen haben sich dann beim Spielen langsam entwickelt. 
Eine wusste schon von Anfang an genau, was sie spielen möchte, 
ein anderer hatte bis fast zuletzt keine Rolle.
Jetzt kenne ich meine Rolle, meine Aufgabe fürs Stück, meine Stichworte. 
Das Stück hat neun Szenen, der Handlungsablauf ist abgesprochen. 
Das ist der grobe Rahmen.

Christian Verhoeven arbeitete bis zu seiner Pensionierung an der Päd.Hochschule HD und gab zukünftigen Pädagogen Theater-Know-How mit auf den Weg.

 

 

 

 

 

Oft spielen die Mitspieler aber anders als in der Probe oder der letzten Aufführung. Zum Beispiel kommt mein Stichwort zu spät, zu früh oder gar nicht.
Da muss ich mich drauf einstellen, trotzdem meine Aufgabe erfüllen. 
Was abändern, was hinzufügen, was weglassen.
Zum Beispiel bei Dialogen muss ich aufpassen, dass ich die anderen nicht zudecke, jeder muss verständlich sein. Trotzdem darf es nicht gekünstelt wirken, denn im richtigen Leben fällt ja auch manchmal eine dem anderen ins Wort oder es gibt ein Durcheinander.

Ob ich wirklich so bin, wie ich im Stück bin, fragst du? Teilweise bestimmt, sonst könnt ich’s ja nicht spielen. Aber ich bin nicht nur das, was ich im Stück spiele. Denkst du denn, ich verrate alles?

Ambivalente Komik
„Durchgedreht“ von und mit dem Reha-„Krüppeltheater“

Der kriegt doch eher ’nen Spasmus als ’nen Orgasmus“, lautet die Feststellung einer Bande Halbstarker, als die Burjan, den 19jährigen Spastiker, in den Armen seiner nichtbehinderten Freundin sehen. Bei solchen Sprüchen, von denen es in dem Stück ,Durchgedreht‘ nur so wimmelt, bleibt jedem halbwegs sensiblen Zuschauer das Lachen im Hals stecken. Und doch ist beides – laut Christian Verhoeven, dem Autor und Regisseur – gewollt, das befreiende Lachen und der bittere Nachgeschmack der ambivalenten Komik.
Das dritte Rocktheaterstück des „Krüppel-Theaters‘ aus dem Reha-Zentrum Neckargemünd, das zum Auftakt des 5. Heidelberger Schultheatertreffens zur Aufführung kam, ist frech, bissig und offensiv. Anstatt Mitleid zu erwecken, zaubern die fünfzehn körperbehinderten Jugendlichen dem Publikum, das sich gequält den Bauch hält, Lachtränen in die Augen. Denn wer hat schon Bundeswehrsoldaten im Rollstuhl gesehen, die als Exerzierübung den Kopf mal nach rechts und mal nach links verdrehen, oder zwei Polizisten, die auf der Wache in ihren Rollstühlen Skat spielen und dabei im Takt der Musik die Beine übereinanderschlagen?
Wo die Szenen ihren choreographischen Touch verlassen, schimmern der sozialpolitische Hintergrund und die persönlichen Erfahrungen der Betroffenen durch die Dialoge. 
Burjan Lager (Talip Cihan) zündet, nachdem er dort wiederholt mit seinem Wunsch, Schauspieler zu werden, abgewiesen wurde, das Arbeitsamt an und kommt vor Gericht. Hier wird in einer Art Rückblende versucht, Verständnis für seine Tat aufzubringen. Seine Eltern, sein bester Freund und seine ehemalige Freundin kommen zu Wort. In leisen Sequenzen, die der Dramaturgie doch keinen Abbruch tun, zeigen sie, wie sie trotz ihres guten Willens an Burjans Hartnäckigkeit gescheitert sind. Und man wird sich als Zuschauer mit genausoviel Unverständnis wie sie fragen, warum es ausgerechnet eine Schauspielerkarriere sein muss. Daneben stehen in grellem Kontrast die Musik- und Bewegungstheatereinlagen, die Momente der Situationskomik und des bewussten Sarkasmus. So zum Beispiel, als der junge Burjan in ein Heim eingeliefert wird und der zuständige Arzt erklärt: ,Gewissermaßen ist unsere Einrichtung eine Art Dauerlabor, indem auch unsere Ärzte immer dazulernen.‘

Von Songs der Gruppe „Reißwolf“ angeheizt, die sich ebenfalls aus dem Reha-Zentrum rekrutiert und von Holly Holleber mit selbstgeschriebener Musik versehen wird, tobte das Publikum am Ende der Aufführung vor Begeisterung und verschaffte sich durch anhaltenden Applaus drei Zugaben.
Wenn man über diese gelungene Abendunterhaltung hinaus gelernt hätte, die Behinderten nicht mehr zu bemitleiden, sondern ihre Stärken und ihren Mut zu sehen – welch ein Stück! 
Alexandra Abel